Wer in den letzten Tagen durch Tech-News und soziale Netzwerke gescrollt hat, bekam schnell den Eindruck: Tim Cook steht kurz davor, den Chefsessel bei Apple zu räumen, und Hardware-Chef John Ternus soll schon als neuer CEO bereitstehen. 
Schlagzeilen klingen nach Umbruch, Drama und einem Apple im Wandel. Doch wie so oft lohnt sich ein zweiter Blick. Zwischen berechtigter Nachfolgeplanung und überdrehten Gerüchten liegen Welten – und aktuell deutet wenig darauf hin, dass Cook schon im nächsten Jahr tatsächlich geht.
Einer, der die Gerüchte zurechtrückt, ist Mark Gurman von Bloomberg. In seiner Newsletter-Reihe Power On, die in der Szene als Pflichtlektüre gilt, ordnet er die Berichte nüchtern ein. Ja, intern werde darüber gesprochen, wer eines Tages auf Tim Cook folgen könnte. Und ja, John Ternus, Senior Vice President of Hardware Engineering, spielt in diesen Gesprächen eine wichtige Rolle. Aber Gurman macht klar: Das ist seriöse, langfristige Nachfolgeplanung – nicht der Startschuss für einen überstürzten Führungswechsel.
In einem Konzern wie Apple ist es eher ein Warnsignal, wenn es keine strukturierten Überlegungen zur Nachfolge gibt. Cook ist Anfang 60 und führt das Unternehmen seit mehr als einem Jahrzehnt. Dass der Verwaltungsrat Szenarien durchspielt, wer in fünf oder zehn Jahren übernehmen könnte, ist schlicht professionell. Ternus ist dafür ein logischer Name: Er verantwortet zentrale Produktlinien, war tief in den Übergang zu Apple-Silicon-Chips involviert und kennt die Kultur aus langen Jahren im Unternehmen. Dass er als möglicher zukünftiger CEO gehandelt wird, ist also mehr Pflicht als Sensation.
Die spannende Frage ist deshalb nicht, ob über Nachfolge gesprochen wird, sondern wann es ernst wird. Und hier bremst Gurman die Erwartungen deutlich. Ein Rückzug Cooks schon im nächsten Jahr hält er für äußerst unwahrscheinlich. Es gebe keine Hinweise auf Konflikte mit dem Board, keinen Druck der Aktionäre, keine Signale, dass Apple einen abrupten Kurswechsel vorbereite. Im Gegenteil: In einer Phase, in der die Branche mit Konjunktursorgen, Regulierung und dem nächsten Technologiewechsel ringt, gilt Cook intern wie extern als Garant für Stabilität.
Hinzu kommt: Tim Cook soll nach wie vor eigene, sehr konkrete Meilensteine im Blick haben. Besonders häufig fällt dabei ein Thema, das ihn angeblich persönlich fasziniert: Extended Reality und echte Alltags-AR-Brillen von Apple. Mit dem Vision Pro hat der Konzern zwar einen spektakulären Einstieg in die XR-Welt hingelegt, aber intern gilt das eher als Vorbote als Endpunkt. Das wahre Ziel sind leichte, unauffällige Brillen, die digitale Informationen wie selbstverständlich in den Alltag einblenden. Für viele Beobachter wäre es nur folgerichtig, wenn Cook diesen Schritt noch selbst begleitet und die erste Generation solcher Produkte miterlebt.
Gurman geht zudem davon aus, dass Cooks Rolle bei Apple nicht einfach endet, sobald irgendwann ein Nachfolger ernannt wird. Das wahrscheinlichste Szenario: Er zieht sich aus dem Tagesgeschäft als CEO zurück, bleibt dem Unternehmen aber als Chairman oder einflussreicher Berater erhalten. So könnte Apple die Weichen für eine neue Generation an der Spitze stellen, ohne die vertraute Leitfigur komplett zu verlieren. Für Investoren bedeutet das: Neue Impulse an der Spitze, aber kein harter Bruch mit der Strategie, die Apple zu einem der wertvollsten Unternehmen der Welt gemacht hat.
Auch für die Außenwirkung wäre ein solcher Übergang typisch Apple: kontrolliert, geplant und möglichst ohne öffentliche Schlammschlacht. Tim Cook hat sich über die Jahre zu einem der wichtigsten Gesichter des Konzerns entwickelt, wenn auch mit einem anderen Stil als Steve Jobs. Er ist weniger Showman, dafür der Manager, der Lieferketten perfektioniert, Margen sichert und neue Geschäftsfelder wie Dienste und Abos zur zweiten Säule neben der Hardware aufgebaut hat. Innerhalb des Unternehmens gilt er als jemand, der sich seinen Abschied eher selbst aussuchen wird, als ungeplant von der Bühne zu verschwinden.
Unterm Strich bleibt: Ja, Apple denkt intensiv darüber nach, wie die Zeit nach Tim Cook aussehen könnte – und John Ternus wird dabei ganz vorne mitgedacht. Nein, daraus folgt nicht, dass im kommenden Jahr der große Knall bevorsteht. Wahrscheinlicher ist ein mehrjähriger Übergang, in dem Cook noch zentrale Projekte wie Apples AR-Offensive begleitet, während potenzielle Nachfolger weiter Profil sammeln. Für Fans, Investoren und Mitarbeitende heißt das: Noch einige Jahre Tim Cook an der Spitze – und eine Nachfolge, die eher sorgfältig inszeniert als hektisch erzwungen wird.