Where Winds Meet war schon vorher ein Hingucker: ein riesiges Wuxia Open World RPG voller Dächer, Klingen und Clanpolitik. Seit dem globalen Release steht aber ausgerechnet etwas im Mittelpunkt, das man in einem historischen Fantasyspiel nicht unbedingt erwartet hätte: extrem redselige NPCs, die von einer KI angetrieben werden. 
Statt starrer Dialogbäume hängen viele Figuren an einem Chatbot-System und reagieren auf fast alles, was Spieler eintippen. Das macht aus jeder Schenke und jedem Hof plötzlich eine kleine Bühne für spontane Szenen, die von tiefschwarzer Comedy bis zu ehrlichen Gesprächen über das Leben reichen.
In der Early-Access-Phase wirkte diese Idee noch ziemlich zahm. Die Figuren wiederholten hauptsächlich ein paar Standardsätze, und vieles fühlte sich an wie ein Buzzword für die Feature-Liste. Mit dem finalen Launch hat Everstone Studio die Zügel aber offenbar deutlich gelockert. Der gleiche Wache am Stadttor oder der erfolglose Schüler eines Kampfschulen-Meisters erinnert sich jetzt an vorherige Nachrichten, stellt Rückfragen, verheddert sich in Missverständnissen, bedankt sich oder wird sichtbar gereizt. Plötzlich ist das Dialogsystem nicht mehr nur Kulisse, sondern Spielfeld.
Eine gnadenlose Seifenoper für Zhao Dali
Besonders viel Aufmerksamkeit bekam ein NPC namens Zhao Dali, der unverhofft zur tragischen Hauptfigur einer von Spielern erfundenen Seifenoper wurde. Ein Spieler flirtete sich langsam in sein Vertrauen hinein, baute eine vermeintliche Romanze zwischen dem eigenen Charakter und Zhao auf und schob danach die Behauptung hinterher, die Figur sei schwanger. Im nächsten Schritt ging es um Geld, Verantwortung und die Frage, ob Zhao ein guter Vater sein könnte. Der Chatbot folgte dieser Konstruktion erstaunlich konsequent, schwankte zwischen Sorge und Pflichtgefühl und versprach, so gut es geht für das Kind zu sorgen.
Der grausame Höhepunkt kam, als der Spieler die imaginäre Geschichte mit der Nachricht beendete, das Baby sei gestorben. Zhao Dali brach in Schuldgefühle und Trauer aus, entschuldigte sich, klang gebrochen. Von außen liest sich das wie bitterböse Comedy, die eindeutig an die Grenze des guten Geschmacks geht. Gleichzeitig zeigt sie, wie tief die KI emotional einsteigen kann, ohne dass dafür je eine Quest designt wurde. Genau daran scheiden sich die Geister: Die einen feiern es als abgefahrenen Story-Sandkasten, die anderen stöhnen genervt über noch mehr generierte KI-Inhalte in Spielen und sorgen sich um klassische Autorenarbeit.
Wenn Spieler sich für Mitgefühl statt Chaos entscheiden
Zum Glück besteht das System nicht nur aus emotionaler Folter. Es gibt ebenso viele Beispiele für Spieler, die die Funktion nutzen, um gescheiterte oder traurige Figuren aufzubauen. In einer Geschichte trifft man auf einen NPC, der niedergeschlagen ist, weil seine jahrelange Kampfausbildung nichts gebracht hat, er keinen gesellschaftlichen Rang und keine Partnerin hat. Statt ihn auszulachen, führt der Spieler ein fast therapeutisches Gespräch über Durchhaltevermögen, über den Wert von Disziplin und darüber, dass Scheitern zum Weg gehört. Am Ende bedankt sich der NPC verlegen, sagt, er habe das hören müssen, und fasst neuen Mut.
In einem anderen Chat wird die Unterhaltung fast zu einer Coaching-Session. Der Spieler redet über Ziele, Geduld und den Umgang mit Frust, während der NPC in Bildern aus der Wuxia-Welt antwortet: innere Balance, fließende Energie, weicher Atem im Sturm. Es wirkt plötzlich erstaunlich intim für eine Nebenfigur, die ursprünglich wahrscheinlich nur zwei, drei Standardsätze haben sollte. Gerade dieses Spannungsfeld macht den Reiz aus: Die KI reagiert einerseits sichtbar generisch, trifft andererseits aber oft genug einen Ton, der perfekt zum Setting passt.
Absurde Kung-Fu-Techniken und Ärger nach zu viel Spott
Natürlich testet die Community auch die Grenzen des Systems. Ein Spieler versuchte, einem NPC einen völlig überdrehten, physikalisch unmöglichen Kung-Fu-Move zu erklären, mit immer abstruseren Details. Der Chatbot spielte eine Zeit lang mit, hakte nach, versuchte nachzuvollziehen, wie der Trick funktionieren soll, und gestand irgendwann, dass er sich das beim besten Willen nicht vorstellen kann. Trotzdem blieb die Antwort im Rahmen der Spielwelt, fast so, als würde ein menschlicher Schauspieler auf der Bühne improvisieren, während das Publikum ihn bewusst aufs Glatteis führt.
Die Kehrseite: Wer Figuren zu lange provoziert, muss mit Konsequenzen rechnen. Einige Berichte schildern Dialoge, in denen Spieler einen NPC permanent beleidigen, verhöhnen und anstacheln, bis bei der Figur sprichwörtlich die Sicherung durchbrennt. Dann kippt der Ton, die Antworten werden aggressiv – und plötzlich wechselt das Spiel vom Chat in den Kampfmodus. Aus einer angeblich harmlosen Stichelei wird eine vollwertige Auseinandersetzung mit Schwert und Ausweichrollen. Damit spannt Where Winds Meet einen Bogen von sozialem Experiment zu den Kernmechaniken des RPGs.
Mehr als nur ein Gimmick im Free-to-play-Epos
All diese KI-Dialoge sind eingebettet in ein ohnehin gewaltiges Free-to-play Open World RPG für PC und PlayStation 5, mit weitläufigen Städten, Handelsrouten, Tempeln und Dächerjägerei. Wer auf das ganze KI-Thema keine Lust hat, kann es ignorieren und ganz klassisch Quests erledigen, Ausrüstung sammeln und Fraktionen ausspielen. Aber wer neugierig darauf ist, wie Spiele mit generativer Technik experimentieren, findet hier einen der interessantesten Ansätze der letzten Jahre.
Ob man die redseligen NPCs nun als Zukunft der Immersion oder als Modeerscheinung sieht, ist letztlich Geschmackssache. Fakt ist: Sie geben Spielerinnen und Spielern neue Werkzeuge in die Hand, um eigene Geschichten in einer ohnehin riesigen Welt zu erfinden. Mal entsteht daraus eine bitterböse Fake-Familien-Tragödie, mal ein ernst gemeintes, aufmunterndes Gespräch. In vielen Tavernen von Where Winds Meet bleiben dadurch nicht nur Bosskämpfe im Gedächtnis, sondern auch die Zeilen, die man einem verletzlichen, digitalen Gegenüber schreibt. Und genau das macht das KI-System der NPCs deutlich spannender als ein bloßes Marketing-Feature.