Seit Jahren rufen Splinter-Cell-Fans immer wieder das Gleiche: Holt Sam Fisher zurück, gebt uns ein richtiges Stealth-Spiel. Stattdessen bekamen sie XDefiant – einen Free-to-play-Shooter mit Fraktionen, Fähigkeiten und allem, was gerade im Trend liegt. 
Was viele erst jetzt so richtig frustriert: Laut einem aktuellen Bericht soll XDefiant ursprünglich als neues Splinter-Cell-Projekt bei Ubisoft begonnen haben, bevor es nach und nach zu einem Live-Service-Shooter umgebaut wurde.
Die Hintergründe dazu tauchen in einem Porträt über AdHoc Studio auf, das unabhängige Team hinter dem episodischen Superhelden-Bürodrama Dispatch. Mehrere Köpfe von AdHoc haben eine gemeinsame Vergangenheit bei Telltale Games, wo sie an narrativen Titeln wie Tales from the Borderlands arbeiteten. Dort drehte sich alles um Dialoge, Entscheidungen und Figuren – nicht um Battle Passes oder kosmetische Skins.
2017 wechselten Nick Herman, Dennis Lenart und Pierre Shorette zu Ubisoft. Der Lockruf: eine neue Chance, Splinter Cell wiederzubeleben. Intern sollte ein moderner, aber treuer Nachfolger entstehen – mit dunklen Korridoren, cleverem Leveldesign, akribischer Infiltration und der klassischen Spannung, die entsteht, wenn ein einziger Fehltritt die gesamte Mission gefährdet. Herman erzählt, wie begeistert das Team war, eine starke Geschichte zu erzählen und gleichzeitig genau den Ton zu treffen, den Fans seit Jahren vermissen.
Parallel dazu vollzog Ubisoft auf Management-Ebene jedoch einen deutlichen Kurswechsel. Der Publisher drückte sein gesamtes Portfolio in Richtung „Games as a Service“: langlebige Titel mit Seasons, Events, Item-Shop und monetarisierbaren Fortschrittsschleifen. In so einem Framework wirkt ein fokussiertes Stealth-Spiel mit klarer Kampagne plötzlich wie ein Fremdkörper in der PowerPoint-Präsentation – spannend für Fans, aber schwerer skalierbar für Umsatzprognosen.
Also begann das Projekt sich zu verändern. Mehr Multiplayer, mehr Tempo, mehr Progression. Statt geduldigem Schleichen rückten Fähigkeiten, Gadgets und fraktionsbasierte Gefechte in den Vordergrund – Systeme, die sich gut in Ranglisten und Matchmaking einfügen. Schritt für Schritt entfernte sich das, was als neues Splinter Cell geplant war, von seinen Wurzeln, bis am Ende etwas übrig blieb, das eher zu einem Free-to-play-Arenashooter passte. Aus diesem Prozess ging schließlich XDefiant hervor.
Als XDefiant veröffentlicht wurde, fiel das Echo verhalten aus. Kritiken sprachen von „okay, aber austauschbar“ – solide für ein paar Abende, aber ohne klare Identität in einem ohnehin überfüllten Markt. Ein wirklich großer Durchbruch blieb aus. Statt zur nächsten Cashcow im Service-Katalog zu werden, verschwand XDefiant rasch wieder von der Bildfläche. Im Juni wurden die Server abgeschaltet, gleich zwei Studios traf es dabei mit voller Wucht. Für viele Fans fühlt es sich so an, als sei ein möglicher Splinter-Cell-Neustart auf dem Altar der Live-Service-Strategie geopfert worden – nur damit das Experiment dann trotzdem scheitert.
Für die beteiligten Kreativen blieb das nicht ohne Konsequenzen. Herman, Lenart und Shorette verließen Ubisoft und gründeten 2018 gemeinsam mit Michael Choung AdHoc Studio. Ihre Lektion aus der Großprojekt-Erfahrung: Wenn man wirklich Geschichten erzählen und Figuren in den Mittelpunkt stellen will, braucht man mehr Kontrolle, als ein großer Publisher in der Regel zulässt. In dieser Phase übernahm AdHoc auch einen großen Schreibauftrag für The Wolf Among Us 2 und lieferte ein enorm umfangreiches Skript. Doch auch dort führten kreative Einschränkungen und fehlende Entscheidungsfreiheit am Ende zum Ausstieg.
Stattdessen konzentrierte sich das Team auf Dispatch, eine Serie von Episoden über Superhelden, die tagsüber in Großraumbüros arbeiten, mit Burnout kämpfen und privat genauso chaotisch unterwegs sind wie ihre Gegner. Mit Unterstützung eines Publishers, der Castingspezialistin Linda Lamontagne und einer Riege bekannter Schauspieler nahm Dispatch immer mehr Gestalt an. Ein kurzfristiger Deal mit den Machern von Critical Role bei einem weiteren Spiel half finanziell über die letzte Hürde. So entstand eine Version von Dispatch, die spürbar das ist, was AdHoc machen wollte – nicht das, was in ein Monetarisierungsmodell passen musste.
Währenddessen hängen Splinter-Cell-Fans weiter in der Warteschleife fest. Der letzte komplett neue Ableger, Splinter Cell: Blacklist, erschien 2013 – in Konsolengenerationen gerechnet ist das eine halbe Ewigkeit. In Foren und Kommentarsektionen werden immer noch die Klassiker durchdekliniert: Für einige bleibt Pandora Tomorrow wegen seines Leveldesigns und der geschmeidigen Bewegungen unerreicht, andere feiern Chaos Theory für Atmosphäre, Soundtrack und die Freiheit, Missionen auf unterschiedliche Weise anzugehen. Viele sind dagegen irgendwann nach Double Agent ausgestiegen, weil sich die Reihe für sie zu sehr in Richtung generischer Actionthriller bewegte.
Offiziell existiert Hoffnung in Form eines Remakes des ersten Splinter Cell, das Ubisoft vor einigen Jahren angekündigt hat. Doch seit den ersten Meldungen und Stellenausschreibungen ist es auffallend still geworden. Seit 2022 gab es keine wirklich substanziellen Lebenszeichen – genug, um die Community misstrauisch zu machen. Viele sagen offen, sie glauben erst an das Projekt, wenn sie echtes Gameplay sehen und nicht nur ein hübsches Logo. Parallel dazu haftet Ubisoft zunehmend das Image eines Publishers an, der angeblich nicht versteht, warum die Fans so distanziert reagieren, während er gleichzeitig immer wieder an kurzfristigen Live-Service-Trends festhält.
Die Reise vom geplatzten Splinter-Cell-Neustart über XDefiant bis hin zu Dispatch wirkt damit wie eine Momentaufnahme der AAA-Branche der 2020er Jahre. Auf der einen Seite das Management, das auf planbare Einnahmen, „Engagement“ und wiederkehrende Zahlungen fixiert ist. Auf der anderen Seite Designer und Autorinnen, die sich in kleineren Studios ihre Freiräume suchen, um wieder Spiele zu machen, bei denen Atmosphäre und Figuren wichtiger sind als der nächste Battle Pass. Für Splinter-Cell-Fans ist das eine bittere Ironie: Der Meister des Schattens ist weiterhin verschwunden – aber die Leute, die ihn zurückbringen wollten, erzählen inzwischen neue Geschichten an einem anderen Ort, weitab vom Lärm der Live-Service-Maschinerie.